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Heimat

Mein Heimatbegriff hat sich im Leben viele Male verändert und war dabei auf unterschiedliche Weise emotional. Weil ihm immer das Absolute fehlte, brauchte er stets Kontext, um verstanden zu werden.

In Kindheitstagen habe ich nicht über Heimat nachgedacht. Am ehesten war es die Geborgenheit des Elternhauses, die Vertrautheit und Sicherheit gab. Auf Entfernung kam es dabei nicht an.
Wenn später beim Studium in Stuttgart jemand nach meiner Herkunft fragte, habe ich „Westfalen“ gesagt. Die meisten hatten davon gehört, aber in der damaligen Vorstellung vieler Schwaben lag es im hohen Norden an der Küste. Der Fehler war mir egal, weil der Heimatbegriff für mich passte, obwohl er um einiges vergröbert war.
Im Ausland habe ich die gleiche Frage mit „Deutschland“ beantwortet. Erst mit der Zeit habe ich verstanden, dass damit von allein Bilder im Kopf der Menschen entstanden, die sich aus den Klischees nährten, die mit Deutschtum verbunden wurden. Sie schufen Erwartungen an Disziplin, Organisiertheit, Arbeitsamkeit, die mir wie selbstverständlich begegneten, obwohl ich mir ihnen zunächst nicht bewusst war. In der typisierenden Sicht der Welt waberten Lederhosen, Bierkrüge, Sauerkraut und Schweinshaxen in den Köpfen. Nichts von all dem stand mir nah.

Am Rande bemerkt: Wir selbst, zumindest diejenigen mit einer romantisierenden Weltsicht, sind zuweilen Opfer unserer eigenen Vorstellungswelt. Betrachten wir dazu nur einen Augenblick die Heimatabende mit krachenden Volkstanzgruppen und in Stadt und Land gefürchteten Kinderchören, Trachtenvereine, die sich scheinbar stets im Gleichschritt und nur bei Blasmusik fortbewegen, oder die überreiche Ausstattung und das Ambiente bei Volksmusikkonzerten. Ich habe gar nichts gegen Heimatliebe. Was ich ablehne, ist ein Bild zu zeichnen, in dem sich alle immer und überall schematisch so verhalten. Das zielt am realen Leben vorbei.

Zur Missverständlichkeit des Begriffes »Heimat« fällt mir eine Szene aus der romantisierenden Fernsehserie »Der Doktor und das liebe Vieh« ein:

Der junge Tierarzt James Herriot hat nach dem Studium das Haus seiner Eltern verlassen und in Darrowby (Yorkshire) seine erste Stelle in einer Landpraxis angetreten. Das frohe Leben inmitten der unberührten Natur gefällt ihm, und er verliebt sich in die schöne Bauerntochter Helen. Im fernen Glasgow arrangiert derweil seine Mutter Hannah für ihn ein Jobangebot in der modernen Stadtpraxis von Bill Weipers. Im Vertrauen auf die Rückkehr des Sohnes sagt sie dort für ihn zu, ohne vorher mit ihm gesprochen zu haben. Der verliebte James ist innerlich zerrissen zwischen seiner Verlobten Helen und der Leichtigkeit des Lebens in Darrowby einerseits und der Verpflichtung gegenüber seinen Eltern andererseits. Es kommt zum Besuch von Hannah und James Herriot sr. in Yorkshire, an dessen Ende der Sohn ihnen mitteilt, dass er sich entschieden hat, nicht nach Glasgow zurückzukehren.
Hannah: »Und was ist mit Bills Praxis? Er arbeitet zu normalen Zeiten, sie ist so modern und neu.«
James: »Das macht eine Praxis nicht aus. Es sind die Menschen. Ich liebe es hier. Das ist jetzt mein Zuhause.«
Zum Schluss der Episode verabschiedet sich James mit Händeschütteln und Umarmungen von den Eltern, die ihre Rückreise antreten und in den Bus nach Glasgow einsteigen.
James: »Ich komme euch besuchen, sobald ich kann. Weihnachten vielleicht.«

Hannah: »Besuchen? Man besucht sein Zuhause nicht. Es ist dein echtes Zuhause. Und das wird es immer sein.«

James: »Ich weiß, Mum, das habe ich nicht gemeint.«
Hannah: »Du bist mein Junge!«
In diesen Dialogen tritt wirkungsvoll zum Vorschein, warum Heimat ein missverständlicher Begriff ist, den man nur im Kontext versteht. Das Gespräch lässt einen beschämten Sohn und seine enttäuscht weinende Mutter zurück, weil beide zwar dasselbe Wort benutzt, aber etwas anderes gemeint haben.

So habe ich gelernt, dass Heimat ein riskantes Konzept ist. Denn es trägt das Risiko in sich, die Wirklichkeit emotional zu verzerren und ihr Eigenarten beizufügen, die so nicht existieren, zumindest nicht für die meisten von uns.

Es gab eine Zeit, vor allem in Asien, in der ich mich dagegen gesträubt und wann immer möglich, davon gesprochen habe, Europäer zu sein – oder Weltbürger. Nicht im Geringsten, mit keiner Faser meiner selbst, hat sich das gegen Deutschland gerichtet, das Ziel war schlicht, dem kategorisierenden Schubladendenken zu entkommen. Die Strategie war nicht erfolgreich, denn zum Schluss, wenn ein Gespräch auf den Punkt kam, gab es an der Nationalstaatlichkeit kein Vorbei mehr. Dann war man das, woher man kam.

Vollkommen anders ist meine Haltung zur eigenen Abstammung, sie verändert sich nicht, bleibt lebenslang ein Teil von mir, ist gesetzt, eingehauen wie ein Pflock in die heimische Scholle, den Ursprung, wo das Leben seinen Anfang genommen hat. Manche behaupten, sie könnten es sehen, das typisch deutsche Aussehen erkennen, das Westfälische, im Körperbau und im Gesicht. Ich halte das für Unsinn.

Aber man hört es, ich höre es, wenn die Menschen meine Sprache sprechen, keinen wirklichen Dialekt, nur den Klang und die Tonlage, kurze klare Sätze, möglichst nicht ein Wort zu viel, sprechfaul zusammengerafft mit immer gleichen Grammatikfehlern. Kaum bin ich angekommen und es wird gesprochen, entsteht sofort Vertrautheit, das Gefühl von Zusammengehörigkeit, ein Verstehen, das neben dem Inhalt eine tiefe Beziehungsebene hat, egal worum sich das Gespräch auch dreht. Das war selbst im Ausland so. Wenn mein Gegenüber so sprach wie ich, haben wir uns unbewusst verortet und meist auf Anhieb bestens verstanden.

Wieder zurück in Deutschland, denke ich über Heimat weniger nach. In unserem schwäbischen Ort sind viele heimisch und zahlreiche zugezogen, aber man grenzt sich nicht ab, darum macht es keinen Unterschied, welcher der beiden Kategorien man zugerechnet wird.

Emotional verbinde ich mit dem Heimatbegriff zumeist Menschen. Damit gibt es für mich an vielen Orten ein Stück Heimat, wenn das dem Begriff so überhaupt gerecht wird.
Aus der Perspektive des Auslands bin ich zurück in der Heimat, ohne zu wissen, was das konkret bedeutet. Aus ostwestfälischer Sicht bin ich immer noch in einer Art von Fremde, und das wird so bleiben, denn dort liegen meine Wurzeln. Abstammung verändert sich nicht, Heimat schon.

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