Im Russland der 90er-Jahre habe ich meine ersten Auslandserfahrungen gesammelt. Von 1991 bis 1996 habe ich in Moskau gelebt und gearbeitet.
Damals kam mir das lange vor. Heute habe ich verstanden, wie kurz die Zeit war und dass sie mir nur einen kleinen Einblick in dieses endlose Land und seine reiche Geschichte gewährt hat.
In diesen Jahren habe ich miterlebt, wie der politische und gesellschaftliche Wandel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Land und die Menschen durchgerüttelt und bis an die Grenze des Abgrunds geführt haben. Es war eine herausfordernde Zeit, manchmal gefährlich, oft schaurig und dennoch schön.
Jeder Tag verlief wie ein vergilbter alter Abenteuerfilm, mit zu wenig Licht und in trüben Farben, meist kümmerlich inszeniert. Erst wenn man sich innerlich schüttelte, wurde einem bewusst, dass die fahle Kargheit des Lebens kein Schauspiel, sondern die Realität jener frühen Jahre war.
Dennoch bin ich dankbar für die Zeit in Russland, sie war in vielerlei Hinsicht prägend und lehrreich. Das Land hat mich stets anständig behandelt, die Menschen waren gutmütig und gastfreundlich. Ich werde ihnen das nicht vergessen.
Seitdem sind einige Jahrzehnte vergangen. Es wird immer alles anders, ich habe mich verändert, mein altes Moskau gibt es längst nicht mehr und vieles erkenne ich nicht wieder.
Aber wenn ich mich erinnere, schwingt seine Seele bis heute in mir nach.
Russland
Kurz bevor ich 1991 in Moskau ankam, war der Putsch gegen den damaligen Präsidenten Michail Gorbatschow gescheitert, bald darauf folgte ihm Boris Jelzin nach, die Sowjetunion fiel in sich zusammen, Wirtschaft und Verwaltung zerbrachen, das Land schlitterte ins Chaos.
Für einige Monate profitierten wir westlichen Ausländer davon, denn der Kurs des Rubels fiel, Kaviar und Wodka waren billig. Wir besuchten das Restaurant Praga und reservierten einen Tisch im Spiegelsaal. Bevor der Ober erklärte, welche Gerichte auf der Speisekarte ausverkauft waren, bestellten wir einmal von allem. Die Kellner verstanden und tischten russische Vorspeisen auf, mit Lachs und Stör, Gemüse und fetten Salaten. Kaviar ging extra, aber Wodka war gleich inbegriffen, eine Flasche zu jedem Gedeck, manchmal wurde trotzdem nachbestellt.
Doch bald endeten die Ressourcen, die staatlichen Restaurants und Geschäfte erhöhten ihre Preise. Dennoch waren die Regale in den Läden leer, Benzin wurde zur Mangelware und sogar im Devisenladen gab es nur Dosenkäse und Eingemachtes. Die Diplomaten halfen mit vielem aus, denn sie bestellten Lebensmittel containerweise in Hamburg.
In den folgenden Hungerwintern standen wir in klirrender Kälte vor den Brotläden, um ein frisches Sauerteigbrot zu bekommen. Wenn es in der Stadt Toilettenpapier oder Putzmittel gab, haben wir Telefonketten gebildet. Und jeder hat versucht, soviel wie möglich zu kaufen, um es im Freundeskreis weiter zu verteilen.
Damals war ich jung. Diese Erfahrungen haben mich erschüttert, denn meine Nachkriegsgeneration kannte keinen Mangel: Was gebraucht wurde, haben wir im Laden gekauft. In Moskau waren Zusammenhalt und Solidarität nötig, um uns gegenseitig durchzubringen, das habe ich dort gelernt. Darum halten die Freundschaften aus dieser Zeit bis heute.
Eine Freundin beschaffte Karten für das Bolschoi-Theater, und wir besuchten irgendein Ballett. Uns war egal, welches es war. Hauptsache ins Theater! Die gedämpfte Atmosphäre, schweres Rot und Gold, mächtige Kronleuchter und der prachtvolle Brokatvorhang machten Stimmung. Der Vorhang war noch mit Hammer und Sichel bestickt, inzwischen etwas verblichen. Bei jeder Aufführung spielte das volle Sinfonieorchester, immer wieder Schwanensee, ganzjährig den Nussknacker, Giselle habe ich mindestens dreimal in unveränderter Besetzung gesehen.
Wenn uns Moskau zu viel wurde, verbrachten wir das Wochenende in St. Petersburg. Die Autofahrt war lang und anstrengend, aber es gab den »Roten Pfeil«, einen gemütlichen Nachtzug mit Schlafwagenabteilen. Speziell im Winter war die Zugfahrt ein Erlebnis, dann zog die verschneite Landschaft im Mondlicht an uns vorbei und die Reise schien nur einen Augenblick zu dauern. Im Schaffnerabteil gab es heißen Tee aus dem Samowar, irgendwer hatte immer Wodka dabei und es gab aus den Proviantpaketen geräucherten Speck und eingelegtes Gemüse zu probieren. In St. Petersburg haben wir fast jedes Mal die Eremitage besucht, in den weißen Nächten im Juni sind wir zu den Newa-Brücken und raus zu einer Bootsfahrt.
Gegenüber vom Roten Platz in Moskau existierte noch das staatliche Kaufhaus GUM, und wir sind oft hineingegangen. Es gab dort zwar nichts zu kaufen, aber die ehrwürdige Atmosphäre in den gestreckten Galerien war einladend. Geschützt vom hohen Glasdach wurde hier an einem verspielten Springbrunnen mitten im russischen Winter Softeis gegessen.
Überhaupt, die langen und eisigen Winter, sie waren eine Herausforderung. Im Januar wurde es so kalt, dass einem der Atem gefror. Die Tage fingen damit an, morgens das Auto aus den Schneewehen auszugraben. Ich bin damals ein Dieselauto gefahren, denn wenn es an den Tankstellen keinen Kraftstoff gab, habe ich an der Ringautobahn immer einen LKW-Fahrer gefunden, der mir für kleines Geld aus seinem Tank etwas abgab. Nach dem Anlassen hat sich der Wagen dann in der klirrenden Kälte gerüttelt und geschüttelt, egal, er lief und ich blieb mobil. Zum Ende des Winters waren die Straßen übersät mit Schlaglöchern, manche davon kratertief, aber man sah das nicht, weil sie meist voller Wasser standen. Um das Schlimmste zu vermeiden, wurden provisorisch Reifen reingelegt, doch mit Glück ist es mir gelungen, allen Löchern rechtzeitig auszuweichen.
Generell war damals eine Portion Glück nötig, um umbeschadet durch den Alltag zu kommen, weil es seinerzeit Menschen und Orte gab, von denen man sich besser fernhielt, wenn es einem denn früh genug klar wurde. Auch die Staatsgewalt, ihrerseits wohl aus gutem Grund bis an die Zähne bewaffnet, war in diesen Zeiten des Umbruchs nicht dafür bekannt, zimperlich vorzugehen. Über die Jahre gab es einige brenzlige Situationen, und es war ratsam, immer die Augen offen zu halten, um sich nicht unversehens zwischen den Linien wiederzufinden.
Gleich zu Anfang hatte ich die Sprache erlernt, nicht perfekt, aber ausreichend, um Schilder zu lesen, auf meinen langen Reisen im Osten des riesigen Landes klarzukommen und mit den Menschen zu sprechen. Die meisten von ihnen schützen sich durch Misstrauen und eine schroffe und harte Schale. Man lernt sie nicht kennen, ohne sich auf den Weg in ihr Inneres zu begeben. Ihre Mentalität sieht man erst in der Tiefe der süßlich trauernden Seelen und man erahnt sie in den wehmütigen Liedern, die abends nach vielen Flaschen Wodka an den Tischen angestimmt werden. Ich erinnere mich bis heute an die Melancholie und dumpfe Sehnsucht, die daraus klangen.
Es hat Jahre gedauert, bis ich die Freude verstanden habe, die sich aus dieser Schwermut nährt. Denn darin liegt das Glück ehrlich geweinter Tränen und großer Emotionen, die ohne vergängliches Lachen auskommen.