Taipeh∼Taiwan

In diesem Lebenstempo erreichten wir 2018 Taiwan, ohne zu wissen, dass unser Aufenthalt dort nur drei Jahre dauern würde.

Die Häuser der Stadt drängen in die Höhe, ihre Ausdehnung wirkt dadurch überschaubar, eine Großstadt ohne metropolitischen Anspruch, organisiert und sauber, mit durchdachter Infrastruktur, kontrolliert, sicher und unkompliziert. Dabei schützt die Stadt ihre Seele hinter den dicken Fassaden ihrer Häuser, verbirgt sich dahinter, ihr Puls schlägt langsam, leise und gleichmäßig, und weil sie selbstbewusst ist, regt sie nichts auf.

Um nicht mit Taipeh zu kollidieren, haben wir mit voller Kraft gebremst und uns mit Ungeduld am Neuen orientiert. Wir haben uns darauf eingelassen und dabei Liebenswertes gefunden, das meist zwischen Häusern und Straßen verborgen lag. Vor allem in den Parks und Gärten, wo man sie nicht vermutet, hält die Stadt ihre darstellende Kunst und Street Art versteckt. Taipeh drängt sich nicht auf.

Uns Fremden gegenüber waren die Taiwaner wohltuend hilfsbereit und freundlich. Kraftvoll in ihren Traditionen und Familien verwurzelt, geordnet und pflichtbewusst, haben sie uns respektvoll und mit ehrlichem Interesse am Andersartigen behandelt.
Neue Freunde gewährten uns Einblicke in ihre sonst verschlossene Welt, sprachen über die Sehnsucht nach Veränderung, Gerechtigkeit zwischen den Generationen und die Sorge um die Stabilität und Sicherheit des Landes. Diese innere Haltung, die Verpflichtung gegenüber der Tradition und Verantwortung für die Zukunft miteinander in Einklang zu bringen versucht, hat uns bei jüngeren Menschen tief beeindruckt.
Die Angst vor dem Übergreifen des Coronavirus aus dem benachbarten China versetzte das Land in eine Schockstarre. Das öffentliche Leben beschränkte sich in dieser Zeit auf das Notwendige. Persönliche Kontakte wurden ausgedünnt.
Endlich hatten wir Zeit für uns, haben angehalten, nachgedacht, Vergangenes gewürdigt, Kapitel abgeschlossen und unseren Erfahrungen erlaubt, Erinnerungen zu werden. Wir haben beschlossen, der langen Reise ein Ziel zu setzen, anzukommen, ohne gehetzt davon zu sein, die Abreise zu verpassen.
Darum haben wir einen tiefen Schnitt gesetzt, sind nach Deutschland übersiedelt, gekommen um zu bleiben. Aber nicht unbedingt endgültig, wir sind weiter offen für Veränderung, in der Überzeugung, dass die Stationen des Lebens endlos sind und man sie erst in der Rückschau versteht.
Taiwan
Es war ein heißer Sommertag in Taipeh, die Hitze brannte in der Stadt, und über dem Asphalt flimmerte die Luft. Nur wenige Menschen waren auf der Straße, die Frauen schützten sich unter bunten Schirmen vor der Sonne, auf den breiten Boulevards rasten die Autos mit rauschenden Klimaanlagen an uns vorbei. Wir waren auf Wohnungssuche, versuchten, die Viertel der Stadt zu begreifen, den Fußweg zur nächsten U-Bahn-Station zu erfassen und hörten den Verkehrslärm, der an den hohen Fassaden hinaufzog.

Mit ausgeklapptem Stadtplan standen wir auf dem Bürgersteig, da zog ein knarrendes Motorrad von der Straße auf den Gehweg, hielt direkt auf uns zu, versperrte den Weg. Umständlich zog der Fahrer seinen Helm vom Kopf, ein junger Hippietyp mit langen Haaren kam zum Vorschein, sein Blick war ernst. Wir erstarrten vor Schreck. Ein Überfall mitten am Tag, direkt in der Innenstadt, inmitten anderer Passanten? Instinktiv klemmten wir unsere Taschen fest unter den Arm, traten einen Schritt zurück und erwiderten ernst seinen Blick. Jetzt lächelte der Fahrer und sprach in gebrochenem Englisch zu uns.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
Wir schauten uns ratlos an und verstanden die Situation nicht.
„Warum helfen? Wobei?“, entgegnete ich ihm.
„Sie stehen hier mit dem Stadtplan in der prallen Sonne auf dem Gehweg. Ich dachte, Sie haben sich vielleicht verlaufen. Sind Sie okay?“, sprach er dann weiter.
„Ja, alles in Ordnung“, antwortete ich und lächelte etwas.
„Wohin möchten Sie denn? Ich zeige Ihnen gern den Weg!“, setzte er nach.
„Danke schön, aber wir orientieren uns nur“, versuchte ich das Gespräch zu beenden, das uns eigenartig vorkam.
„Alles Gute! Und willkommen in Taiwan!“, rief er uns dann zu, setzte seinen Helm wieder auf, zog mit seinem Motorrad zurück auf die Straße und rauschte davon.
Dieser Motorradfahrer hatte uns schon vor der eigentlichen Ankunft auf der Insel mit der Hilfsbereitschaft der Menschen bekannt gemacht, die wir später mit vielen weiteren Erlebnissen verbanden. Die Freundlichkeit, mit der uns die Leute fast überall begegneten, ihre Höflichkeit und der respektvolle Umgang, zumindest mit Fremden und uns Ausländern, waren kennzeichnend für die Kultur und Mentalität.

Mit der Zeit haben wir mehr über den Respekt der Menschen gelernt, gegenüber der Autorität und dem Alter, und die bedingungslose Achtung der Eltern, überhaupt die tiefe Verankerung in der Familie und die Wertschätzung sozialer Harmonie. Ich habe bis heute nicht verstanden, wie es der jungen Generation gelingt, eine moderne, aufstrebende Demokratie, gesellschaftlichen Wertewandel, unternehmerische Kreativität und den Traum von einer besseren Zukunft in Einklang zu bringen mit den engen Verpflichtungen gegenüber der Tradition.
Erst mit der Zeit habe ich verstanden, dass mein westliches Werte- und Kulturverständnis dem Land nicht gerecht wurde. Der große Erfolg, den diese stolzen Menschen mit Ehrgeiz und harter Arbeit bei der Umgestaltung ihrer Wirtschaft und Gesellschaft erreicht hatten, beeindruckt mich bis heute. Dazu gehörten ihre Bereitschaft zum Verzicht, die Solidarität untereinander und ihr ungebrochenes Streben nach Sicherheit und Anerkennung.
Aufgewachsen in Ostwestfalen, nicht allzu weit entfernt von der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, inmitten des Kalten Krieges zwischen den Supermächten, beschützt von einer der wichtigsten Militärbasen der britischen Rheinarmee in Deutschland, unweit des Elternhauses, waren Manöver und Truppenbewegungen ein selbstverständlicher Teil meiner Kindheit. Ich erinnere mich, wie englische Kampfjets auf Übungsflügen scheinbar zum Greifen nah über die Dächer der Häuser donnerten. Drinnen klapperte das Geschirr im Schrank, und draußen legten die Menschen schützend die Hände auf ihre Ohren. Die Alten zuckten manchmal vielsagend zusammen, wenn sie das zuerst dröhnende und dann zischende Überfluggeräusch hörten. Für uns Kinder war es normaler Alltag. Wir waren unbedarft, weil wir keine Gefahr mit den Fliegern verbanden.
Taiwan hat mich gedanklich in diese Zeit zurückversetzt. Hinweisschilder zeigten in Taipeh den Weg und die Entfernung zum nächstgelegenen Schutzbunker, die U-Bahn-Stationen waren bombensicher und verriegelbar. Im Süden des Landes donnerten die Abfangjäger über die Küste hinaus auf die Taiwanstraße, zu Übungsflügen und um die schmale Meerenge zu überwachen. Ohne es zu merken, habe ich beim Überflug der Düsenjets den Kopf eingezogen, bin stehen geblieben und habe tief Luft geholt, weil die Erinnerung an Kindheitstage mir Gänsehaut versetzte. Bei Warnübungen in der Hauptstadt kam der Verkehr vollkommen zum Erliegen, die Straßen wurden innerhalb von Minuten menschenleer geräumt, alle Passanten harrten im nächstgelegenen Gebäude oder Schutzraum aus. Wenn dann nach kurzem Warten Entwarnung gegeben wurde, kam genauso schnell wieder Bewegung in die Stadt und das das öffentliche Leben setzte sich fort.
Die politischen Spannungen mit dem übermächtigen Nachbarn wurden in solchen Momenten erfahrbar, und sie trafen auf den Freiheitswillen eines Volkes, das zu seiner militärischen Verteidigung zum Äußersten bereit war. Eine Haltung, die bei uns nach Jahrzehnten des Friedens verblasst ist und deren letzte Konsequenz uns erst in der jüngsten Geschichte neu vor Augen geführt wurde.
Bei aller Rivalität herrschten enge wirtschaftliche Verflechtungen zwischen der Insel und dem Festland, in dessen Süden viele taiwanische Investoren ihre produzierenden Fabriken aufgebaut hatten, so auch in der Region Wuhan. Darum wurde hier zuerst bemerkt, dass eine unbekannte Infektionswelle ausgebrochen war, und sofort wurde ein Kommandozentrum mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, um Hygiene- und Quarantänemaßnahmen zu erlassen. In den Alpen drängten sich die Touristen in den Skihütten, und im Rheinland wurde ausgelassen Karneval gefeiert. In Taiwan gab es zu diesem Zeitpunkt schon Grenzkontrollen und Veranstaltungsverbote.
Schlagartig drehte sich die Atmosphäre auf der Insel, ein ganzes Volk trug Maske, mit Disziplin und in vorauseilendem Gehorsam, denn viele erinnerten sich an die katastrophalen Folgen der Vogelgrippe und ihre Todesopfer. Zu Anfang waren die Menschen völlig verunsichert, die Stadt war wie leergefegt und wir spazierten zu Fuß auf den freien Stadtautobahnen. Später gab sich das wieder, aber wir haben ein Taipeh vor und ein anderes nach Corona erlebt.
Wie auf allen Stationen haben wir hier Freundschaften geschlossen, Leute getroffen, die uns ein Stück des Weges begleitet haben und mit denen wir lange und tiefe Gespräche führten. Bis jetzt sind es diese persönlichen Begegnungen, die in der Erinnerung aufleuchten und sich auf Dauer darin eingegraben haben.
Konflikte gab es mehr als anderswo, nicht aus bösem Willen, sondern weil die andersartige Kultur und ihre Erwartungen sich so wenig überdeckten. Wir haben das leicht hingenommen, denn wir waren Gäste im Land und es stand uns nicht an, nach unseren Wertvorstellungen zu urteilen. Ansonsten haben wir stets Recht und Gesetz befolgt und den Beitrag zum Gemeinwesen geleistet, der ihm zusteht. Wir waren nicht gekommen, um zu bleiben, darum haben wir jede Freundlichkeit gern angenommen, aber niemals mehr erwartet.
Viele der Erlebnisse aus Taiwan sind frisch, unfertig und oberflächlich, mit der Zeit werden sie sich setzen, erst dann wird es möglich, Banales von Wichtigem zu unterscheiden. Auf jeden Fall haben diese Jahre den Blick auf das wesentliche geschärft und die Zuversicht geschaffen, auch in Zukunft auf die Fragen des Lebens immer wieder neue Antworten zu finden.

 
 
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